Dienstag, 19. Dezember 2017

Wer ist Fritzi?

Fritzi tobte mit Manuel ausgelassen über den Rasen. Sie kickten sich gegenseitig den Ball zu und schossen dann auf das Tor, als sie am anderen Ende des Gartens die beiden jungen Kirschbäume erreichten, deren Stämme die Torpfosten darstellten.

Fritzi liebte es draußen zu spielen, auf Bäume zu klettern, mit Manuel und anderen Jungen zu raufen, Buden zu bauen, mit Autos zu spielen und ab und zu heimlich ein Feuer zu machen, wenn sie Cowboy und Indianer spielten. Natürlich kannten sie sich aus. Sie wussten, dass eine Feuerstelle immer durch einen Steinkreis gesichert werden musste. Schließlich waren sie Fachleute, was indianische Feuer betraf.

Fritzi`s Eltern schauten den ballspielenden Kindern von der Terasse aus zu.
Die Mutter betrachtete nachdenklich das Treiben der Kinder, denn Fritzi hieß mit richtigem Namen Friederike.
Warum musste sie sich immer wie ein Junge benehmen? Sollte sie nicht eher mit Puppen spielen? Warum trug sie am liebsten Hosen statt Röcke und Kleider?
Was stimmte mit diesem Kind nicht?

"Hach, da lasse ich wohl am Besten schon mal das Badewasser ein, so wie die rumtoben, lohnt sich das gleich. Das Badewasser und die Wanne werden wieder schwarz sein.", seufzte die Mutter und ging ins Haus.
Fritzi´s Vater betrachtete seine Tochter schmunzelnd. Irgendwie war sie der Junge, den er sich immer gewünscht hatte. Na ja, aber eben auch nicht so ganz.

Als Manuel sich verabschiedete um zum Abendbrot nach Hause zu gehen, stürmte Fritzi strahlend, mit erhitzten, roten Wagen, das blonde Kurzhaar verschwitzt, an ihrem Vater vorbei, ins Haus.
Ihre Schuhe waren voller Lehm und Gras. Der Rasen hatte an den Seiten ihrer Kleidung seine Spuren hinter lassen und ihr Gesicht wies dort, wo sie sich den Schweiß weggeputzt hatte Schmutzstreifen auf.
"Boah, Papa, hast du gesehen, das war eben ne richtige Blutgrätsche!", rief sie stolz.

Fritzi fühlte sich super! Das hatte Superspaß gemacht!
Sie stürmte in ihr Zimmer und hinterließ dabei kleine Lehmbrocken und Grasreste auf dem Wohnzimmerteppich. Aus den Augenwickeln sah sie ihre Mutter, die gerade aus dem Bad kam. 
Den Blick kannte sie. Es war eine Mischung aus Missfallen, Entsetzen, Enttäuschung und Unverständnis.
Fritzi´s gute Laune und Freude war schlagartig dahin.

Als sie kurze Zeit später in der Wanne lag, dachte sie wieder einmal über ihre Mutter nach.
Warum ist sie immer böse, wenn ich draußen spiele und das tue, was mich Spaß macht? Warum soll ich immer nen Rock anziehen? Ist doch voll unpraktisch!

Fritzi verstand nicht warum ihre Mutter sie nicht so liebhaben konnte wie sie war. Immer nörgelte sie rum. Sie solle sich endlich mal wie ein Mädchen benehmen
Klar, sie war ein Mädchen, aber - eigentlich fühlte sie sich eher wie ein Junge.

Die Zeit verging und Fritzi versuchte sich irgendwie anzupassen. Mehr Mädchen zu sein - was immer das auch bedeutete.
Was die Kleiderfrage betraf war ihre Mutter inzwischen Kompromisse eingegangen, da Fritzi, wenn sie in der Schule oder zum Spielen einen Rock tragen musste, dieser meinst nur unvollständig oder zerrisen wieder zurück kam. Einen Jägerzaum, beispielsweise zu überklettern, war mit einem Rock auch ziemlich unpraktisch.

Jeden Sonntag gab es jedoch die leidige Rockdiskussion, die meistens mit Tränen endeten und manchmal auch mit einer Ohrfeige, wenn Fritzi sich wehement weigerte.

Und auch die Sache mit der Handarbeit!
Fritzi´s Mutter konnte gut nähen und stricken. Sie konnte nicht verstehen, warum ihre jüngste Tochter diese Begeisterung nicht teilte. Stattdessen nahm diese lieber einen Hammer in die Hand und schaute dem Vater beim Werken zu.

Die Mutter machte sich große Sorgen um ihre Tochter. Was war mit dem Kind nur los?

Als Fritzi zwölf Jahre alt war begann ihr Busen zu wachsen. Das fand sie ganz fürchterlich. Sie besaß einen roten, weiten Pullover, den sie fortan fast ausschließlich trug, um die sichtbar werdende Weiblichkeit zu verbergen.

Die Zeit verging und irgendie ergab sich Fritzi in ihre Rolle, die Rolle einer Frau.
Sie trug jedoch weiterhin nur Hosen und ein fiffiger Kurzhaarschnitt umrahmte das kesse Gesicht.
Die Geschichten mit Junges, wie ihre Schwester sie durchlebte, gab es in ihrem Leben jedoch nicht.
Sie mochte Junges, keine Frage, jedoch eher als Kumpels. Gerne diskutierte sie mit ihnen, beispielsweise über Autos. Sie waren direkter, einfacher und nicht so zickenhaft wie Mädchen und Frauen. Fritzi hasste Gespräche über Kochrezepte oder  die neuste Mode.

Als Fritzi 23 Jahre alt war, inzwischen hatte sie einen Beruf mit handwerklichem Hintergrund erlernt und besaß eine eigene Wohnung, traf sie Manuel, ihren alten Spielkameraden, wieder.
Manuel war inzwischen auch zu einem stattlichen, jungen Mann geworden.
Die alte Vertrautheit war sofort wieder da.
Fortan trafen sie sich häufiger. Fritzi fühlte sich bei und mit ihm wohl. Er war verständnis- und rücksichtsvoll. Nie verlor er ein Wort über ihr Ausssehen und ihre  Art sich sportlich zu kleiden.
Fritzi und er hatten immer noch viele gemeinsame Interessen und es war einfach schön, wenn der bei ihr war.
Aber - liebte sie ihn? Irgendwie ja, aber eher wie einen Bruder.

Manuel umwarb Fritzi und sie ließ es geschehen. Es tat ihr gut. Da war jemand, der sie so mochte wie sie war.
Als Manuel um ihre Hand anhielt, sagte sie JA. Sie wollte nicht mehr alleine sein, sie wollte Kinder haben, eine Familie. Sie wollte ein Leben mit Manuel.

Die tiefe Sehnsucht, die sie manchmal fühlte, dass es da noch mehr gab, verdrängte sie.

Ihre Mutter atmete auf. Hatte sie immer noch befürchtet, dass mit Fritzi etwas nicht stimmte. ...

Manuel war Fritzi´s erster Mann. Er war sehr einfühlsam und liebevoll. Doch so intensive Gefühle, wie sie es sich zwischen Mann und Frau vorstellt hatte, konnte sie mit ihm nicht erleben.
"Naja, die Sache mit dem Sex wird auch überbewertet," sagte sie deshalb zu sich selbst. Da sie jedoch unbedingt ein Kind wollte, wehrte sie Manuel nicht ab, wenn dieser sie liebevoll und leidenschaftlich an sich zog.

Fritzi wurde schwanger und sie bekamen eine Tochter.
Ein neues, aufregendes und schönes Leben als Familie begann. Alles drehte sich um die kleine Nina.
Das Liebesleben zwischen Fritzi und Manuel erlosch, da Fritzi es nicht mehr wollte.

Als die kleine Nina 1 Jahr alt war, überlegte Fritzi wieder etwas für sich selbst zu tun. Nicht nur, kochen, putzen, waschen und Windeln wechseln.

Da sie immer schon sehr sportliche gewesen war, meldete sie sich zu einem Gymnastikkurs an.

Voller Freude fuhr sie zum ersten Training.
Als sie die Halle betrat, blickte die Kursleiterin, die gerade Matten auf dem Boden verteilte, auf.
Fritzi schaute zum ersten Mal in die blaugrauen Augen von Gisa, und - es machte "bähm".
Gefühle, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte, durchströmten ihren ganzen Körper.  Sie war geschockt und fasziniert zugleich.

Auf der Heimfahrt versuchte sie ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren.
"Ich hab mich in eine Frau verliebt." , sagte sie laut zu sich selbst.
Fritzi stellte sich Gisa´s Gesicht vor. Diese wundervollen Augen, der schöne, geschwungene Mund, die Grübchen auf der Wange, die blonden, kurzen Haare.

Wieder ließ sie dieses wundervoll berauschende Gefühl aufsteigen und plötzlich wusste sie, wer und was sie wirklich war.
Es war, als wäre sie aus einem hundert Jahre währenden Schlaf erwacht.

Als Gisa und sie sich das erste Mal liebten, wusste Fritzi, dass sie ihr ganzen Leben unbewusst auf diesen Moment gewartete hatte.

Sie war endlich bei sich selbst angekommen.





Ó 12/2017
Bildquelle: pixabay.com

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Samuel der Sternenputzer